Manche Menschen meinen, sie seien im falschen Körper geboren. Mia hingegen glaubte, im falschen Land geboren zu sein. Es hätte Kanada sein sollen, sagte sie oft. Oder die USA. Als sie im vorigen Jahr erneut nach Amerika aufbrach, fühlte sich das an wie eine Rückkehr zu ihren Wurzeln.
Amerika! Immer wieder war sie fasziniert von dieser Weite ‒ und von dieser zutiefst inspirierenden Kulturlandschaft mit ihren unvergesslichen Romanen und Filmen. Und überall Erinnerungen daran, dass hier Blues, Jazz, Folk und Rock’n’Roll geboren wurden ‒ und so großartige Erfinder neuen Musik wie Charles Ives, George Gershwin, Duke Ellington, John Cage, Miles Davis und Steve Reich.
Gleich am ersten Tag, in den kanadischen Rocky Mountains, hatte Mia das Gefühl, als käme sie nach langer Zeit wieder nach Hause. Es begleitet sie auf ihrem Weg nach Banff, Revelstoke, Kamloops und Whistler bis nach Vancouver. In Juneau, im fernen Alaska, hörte sie dann unerwartet das alte DDR-Kinderlied Wie ein Vogel zu fliegen. Wie mag es nach Amerika gekommen sein? Es erklang im Radio, in einem kleinen Café, nur instrumental, und erinnerte sie daran, dass die Sehnsucht nach Weite und Ferne schon früh zu ihrem Leben gehört hatte.
Ich traf Mia in San Francisco, im ehemaligen Hippieviertel Haight-Ashbury, in einem Pub namens Mad Dog in the Fog. Wir unternahmen von dort mehrere Ausflüge. Einer führte uns über die Golden Gate Bridge nach Sausalito ‒ und von dort auf stillen Nebenstraßen bis Bodega bay, dem Schauplatz von Hitchcocks Film Die Vögel. Abends, auf dem Rückweg, sahen wir einen Wald brennen. Dieser Alptraum war ‒ und ist ‒ leider Teil der amerikanischen Realität.
Am anderen Morgen folgten wir dem Highway 1 bis Monterey und verbrachten einige Tage im malerischen Carmel-by-the-Sea, um danach Big Sur zu durchqueren. Hier, wo der melancholische Film The Sandpiper mit Elizabeth Taylor entstand, fuhren wir auch über die Bixby Bridge ‒ wohl eine der schönsten Brücken überhaupt ‒ und besuchten das etwas abseits gelegene Nepenthe mit dem atemberaubenden Blick auf die Küste. Am liebsten wären wir ewig in diesem Paradies geblieben.
Über Pismo Beach und Solvang, einer von dänischen Einwanderern gegründeten Stadt, erreichten wir schließlich Los Angeles. Wir streiften durch das legendäre Laurel Canyon und standen andächtig vor dem kleinen Haus, in dem Joni Mitchell gelebt hatte. In Santa Monica suchten wir den Geist von Brecht in seinem einstigen Haus ‒ und trafen Eisler in Hollywood. Ein nicht weniger magisches Erlebnis waren die winzigen Kolobris am Griffith-Observatorium. Flying Lights, Flying Colors, so tanzten sie durch die Luft.
Immer wieder erlebten wir die Neue Welt als Heimat vieler Tiere, der Wild Neighbours, wie man sie hier liebevoll nennt. Amerika ist eben auch ein Kontinent der Wale und Fischotter, der Bären, Berglöwen, Kojoten und Streifenhörnchen, der Pelikane und Kolibris.
Take the Road Less Traveled gilt hier für Menschen und Tiere gleichermaßen, ebenso Not All Who Wander Are Lost. Beide Sprüche, die aus populären Gedichten stammen, nahmen wir mitunter wörtlich.
Apropos Brücken. Einmal, als wir über die Freiheit der amerikanischen Musik sprachen, bemerkte Mia, die hiesigen Komponisten hätten vielleicht eine Gemeinsamkeit: Viele möchten Grenzen überwinden, kulturelle und stilistische Barrieren, indem sie unsichtbare Brücken bauen.
Mia erfüllte sich noch einen besonderen Traum und baute A Bridge Across The Ocean. Seit einem halben Jahr sieht man sie nun öfter auf der anderen Seite der Welt.
Booklet | CD Mia Brentano’s American Diary – Klaus Martin Kopitz