„Geboren wurde Antoine Reicha am 26. Februar 1770 in Prag. In seiner Geburtsurkunde steht der Vorname Antonius Josephus. Er zählte noch kein Jahr, als sein Vater Simon starb. Danach dürften in dem Haushalt seiner wiederverheirateten Mutter keine für den Knaben förderlichen Verhältnisse geherrscht haben, denn er besuchte nicht einmal die in der Zeit Maria Theresias bereits verpflichtende Elementarschule. Im Alter von zehn Jahren floh er zu seinem Großvater Václav in Klatovy. Doch auch dort war seines Bleibens nicht lang, da er sich nicht genügend gefördert fühlte. 1780/81 reiste er weiter zu seinem jüngsten Onkel väterlicherseits, Matej Josef Reicha (1752-1795), der seit 1774 in der Hofkapelle des Fürsten Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein als Cellist angestellt war. Josef Reicha hatte sich Ende der 1770er Jahre auf Konzertreisen nach Sachsen und Österreich einen beachtlichen Ruf als Virtuose auf seinem Instrument erworben.
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Antoine Reicha lernte deutsch und französisch gleichzeitig, vernachlässigte darüber aber seine Muttersprache tschechisch. In seiner Autobiographie legt er Wert auf die Feststellung, dass er in Böhmen gar keinen Kontakt zur Musik hatte und erst durch seinen Onkel mit ihr bekannt gemacht wurde; er erlernte mehrere Instrumente (Geige, Flöte, Klavier). Im Jahr 1785 wurde Joseph Reicha vom gerade neu eingesetzten Kurfürsten Maximilian Franz (dem jüngsten Sohn Maria Theresias) zum Leiter seiner Hofmusik nach Bonn berufen. Der junge Reicha hatte mittlerweile seine Instrumente so gut erlernt, dass er als Instrumentalist ebenfalls eine Anstellung in der Hofkapelle fand. Zu seinen Kollegen in Bonn gehörten neben Ludwig van Beethoven Franz Anton Ries (1755-1846), die Cousins Andreas (1767-1821) und Bernhard Romberg (1767-1841), allesamt Virtuosen auf ihren Instrumenten.
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[Reicha] studierte heimlich und verlor das Interesse am Instrumentalspiel in dem Maße, in dem er sich in die Komposition
vertiefte. In seiner Autobiographie gibt er an, bereits im Alter von 17 Jahren (also im Jahr 1787) habe er „eine Symphonie für großes Orchester“ und „zahlreiche italienische Szenen“ aufführen lassen.
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Er machte sich Hoffnung auf die Nachfolge seines 1791 an Gicht erkrankten und immer hinfälliger werdenden Onkels; doch vorerst trat Franz Anton Ries an die Spitze der Hofkapelle. Allen diesbezüglichen Ambitionen setzte die Ankunft der französischen Revolutionstruppen und die nachfolgende Besetzung des Kurfürstentums ein Ende. Auf Geheiß seines Onkels, der kurze Zeit später starb, wandte sich Reicha Ende 1794 nach Hamburg. Dort beschloss er, seine Karriere als ausführender Musiker zu beenden und sich fortan nur noch der Komposition und der Musiktheorie zu widmen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Klavier- und Theorielehrer. Er komponierte viel, besaß aber nach eigener Aussage wenig Talent dafür, seine Werke auch an die Öffentlichkeit zu bringen.
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Schließlich erhielt Reicha 1818 eine Professur für Kontrapunkt und Fuge am Pariser Conservatoire; damit hatte er seine Lebensstellung gefunden und richtete sich in Paris als seiner Wahlheimat ein. Noch im Jahr seiner Berufung heiratete er Virginie Enaust. Das Ehepaar hatte zwei Töchter.
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Gegen Ende seines Lebens wandten sich noch César Franck (1822-90), Charles Gounod (1818-93) und Henry Vieuxtemps (1820-81) mit der Bitte um Unterricht an ihn; etliche seiner Schüler unterrichtete er privat, neben seinen Pflichten als Lehrer am Conservatoire. In seinen letzten Jahren wurden ihm etliche öffentliche Ehrungen zuteil: 1829 französischer Staatsbürger geworden, wurde er 1831 zum Chevalier de la Légion d’honneur ernannt. 1835 wurde er Mitglied der Académie des beaux-arts. Reicha starb am 28. Mai 1836 in seiner Wahlheimat Paris.“
Vorwort | Sinfonie c-Moll – Bert Hagels