Heinz Schubert (1908-1945)
Kammersonate für Violine, Viola und Violoncello
Biografie:
Die Frage: „Kennen Sie Heinz Schubert?“ werden viele mit „ja“ beantworten – und den Volksschauspieler meinen, der als ,Ekel Alfred‘ in Erinnerung geblieben ist. Nein, der ist nicht gemeint, sondern der Komponist Heinz Schubert. Aber den kennen nicht nur die Nicht-Musiker nicht. Der ist auch gebildeten Musikern von heute ein unbekannter Name, ja, sogar den meisten Koryphäen der Musikgeschichtsschreibung kein Begriff. Und doch war Heinz Schubert einer der bedeutendsten Komponisten in Deutschland zwischen 1930 und 1945. War er dann vielleicht ein Günstling der Nazis, ein mittelmäßiger Künstler und Konjunkturritter, und ist damit zurecht vergessen? Nein, war er nicht. Hören wir die Musik Heinz Schuberts, so werden die alten, ewigen Fragen an die Kunst wieder relevant: Muss ein Musikstück in den Zeitgeschmack passen? Hat es die ästhetischen Normen der Kunstrichter zu erfüllen? Hat es dem ,Fortschritt des Materials‘, wie er in der Welt zu beobachten ist, Rechnung zu tragen, um ,große Musik‘ zu sein? Heute endlich sind wir wieder geneigt, diesen Fragen ein gelassenes ,Nein‘ entgegen zu setzen. Der Wert einer Komposition hängt nicht von ihren offensichtlichen stilistischen und geschmacklichen Kennzeichen, sondern vom charakteristischen Kern und von ihren subtilen Qualitäten ab, also mit anderen Worten von Eigenständigkeit und Meisterschaft. Sollte man sie in eine der vielen Schubladen einsortieren, so würde man Heinz Schuberts Musik heute wohl als romantisch inbrünstiges, ekstatisch-hymnisches Neobarock bezeichnen müssen, und würde sie damit Seite an Seite mit der epigonalen Mumienverehrung und prätentiösen Zopfigkeit der Proklamateure der ,Zurück zu Bach‘-Bewegung als historischen Sondermüll deklarieren. Freilich bedarf es keiner Schubladen, wenn der Glanz nur groß genug ist. Um das zu erkennen, müsste Heinz Schuberts Musik dringend wieder gespielt werden. Im Moment müssen wir zu diesem Zweck noch ausschließlich auf historische Aufnahmen zurück greifen, die jedoch glücklicherweise von höchstem Karat sind.
Es folgt zum Einstieg der Beginn des ,Introitus‘ aus Heinz Schuberts 1939 entstandenem ,Hymnischen Konzert‘, gespielt 1942 in Berlin von den Berliner Philharmonikern und dem Organisten Fritz Heitmann unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler. 1 Hymnisches Konzert: 1. Satz Introitus, Anfang Berliner Philharmoniker, Fritz Heitmann (Orgel), Wilhelm Furtwängler, live Berlin, 6. 12. 1942 RCD 25016 Track 5, Anfang – 3’40 (Dauer: 3’40) Die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler spielten im Dezember 1942 in Berlin das ,Hymnische Konzert‘ von Heinz Schubert. Furtwängler drückte seine Schätzung für den jungen Kollegen nicht nur mehrfach dirigierend aus, sondern auch im März 1941 mit der folgenden schriftlichen Empfehlung: „Herr Heinz Schubert ist ein echter Musiker, ein Komponist von großen musikalischen Qualitäten, und dürfte sicherlich auch als Kapellmeister Hervorragendes leisten. Jedenfalls kann ich eine Beförderung dieses echten, schlichten und wahrhaftigen Musikers nur befürworten.“ Warum ist Heinz Schubert nach dem Kriege bald vollkommen der Vergessenheit anheimgefallen und hat bis heute keine einigermaßen angemessene Würdigung seines Lebenswerks erfahren? Sein Fall wirft ein bedenkliches Licht auf den Umgang mit unserer eigenen Kulturgeschichte. Nachdem Schubert 1945 gefallen war, bestanden zunächst noch alle Chancen, dass seine Musik auch weiterhin den ihr gebührenden Platz finden würde. Natürlich war die Nachkriegswelt eine völlig veränderte – die ins Exil verbannte Kunst kam machtvoll zurück, viele wandten sich fluchtartig ab von dem, was sie gerade noch überzeugt hochhielten. Das Abbrechen der Brücken zur Tradition und das Neuerfinden der Welt wurden zur herrschenden Losung in einer Welt, die sich neu orientieren musste. Dann geschah in den fünfziger Jahren in Deutschland etwas Interessantes: Es erschien Band für Band das neue, bis heute landesweit den Standard setzende Musiklexikon ,Musik in Geschichte und Gegenwart‘, kurz MGG genannt. Die Herausgeber waren großteils Leute, die während der Nazizeit wichtige Ämter bekleidet hatten, also mit dem System in verfänglicher Weise verflochten gewesen waren. Sie wollten der Versuchung nicht widerstehen, sich auf Kosten anderer, die sich nicht mehr wehren konnten, ,reinzuwaschen‘. Sie brauchten Sündenböcke, die stellvertretend für alle anderen aus den Annalen gelöscht wurden. Auf diese Weise erhielt Heinz Schubert, einer der feinsten Musiker und potentesten Komponisten der Zeit des Dritten Reichs, keinen Eintrag in das maßgebliche Nachschlagewerk, und es sahen sich bald nur noch wenige veranlasst, sich mit seiner Musik und Person zu beschäftigen.
Recht wenig Zeit verging, und er wurde nirgendwo mehr gespielt. Außerdem sind die meisten Dokumente zu seinem Leben und Schaffen, darunter auch fast alle Partitur-Autographen, im Kriege vernichtet worden, und heute steht der an Heinz Schubert Interessierte fast ohne jegliches authentische Material über den Komponisten da. 1952 schrieb Erich Valentin in der Zeitschrift für Musik über Heinz Schubert: „Immer wieder erscheint das geistige Fundament als die bestimmende Kraft, die auch das Musikantische im Werk Heinz Schuberts hoch über die Ebene des Spielerischen, Konzertanten und Virtuosen hinaushebt. Es hat fürwahr keinen Sinn, von stilistischen Voraussetzungen oder wesenhaften Anklängen zu sprechen, von Gotischem oder Barockem, so viel man dessen erkennen zu müssen glaubt. Denn dieses Wachstum von den Motetten des Jahres 1928 bis zum »Ambrosianischen Konzert« des Jahres 1943 ist so eigenbegründet, dass man – und das ist das Erstaunliche an diesem vorzeitig abgeschlossenen Lebenswerk – von Anbeginn die aus dem Inneren gereifte Persönlichkeit erkennt. Schuberts instrumentale Sprache verbindet die Freizügigkeit der Improvisation mit der Strenge des ‚Niedergeschriebenen‘. Das Organische dabei ist, dass diese heterogenen Elemente sich nicht gegeneinander ’stellen‘, sondern sich zur Einheit durchdringen. [?] Großräumigkeit Brucknerschen Klangs steht neben solistischer Feingliedrigkeit. Solch großartige Steigerungen wie im Finale des »Hymnischen Concerts« sind seit Bruckner wenige gestaltet worden.
Ohne eine sensationell zur Schau getragene Absicht, neue Wege zu beschreiten, hat Schubert neue Wege angetreten. Sie liegen insbesondere im Formalen, aber auch da nicht in einer von außen herangezogenen Eigenwilligkeit, sondern in der aus der Struktur gewachsenen Notwendigkeit. Das, so scheint uns, ist der Hauptbeitrag, den Schubert, der aus dem Geiste Kaminskis kam und aus dem Geiste Bachs, dem indessen auch die Welt Strawinskys und Hindemiths nicht fremd war, der aber im Ganzen ein Eigener ist – das ist der Hauptbeitrag, den Schubert zur Geschichte der Musik unsrer Tage geleistet hat.“ Soweit Erich Valentin 1952. Das wars dann auch für den Rest des Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht muss Heinz Schubert als eine der tragischsten Figuren der deutschen Musikgeschichte gelten. Hören Sie nun von Heinz Schubert einen Ausschnitt aus seiner 1931-32 komponierten ,Concertanten Suite‘ für Violine und Kammerorchester. Leider sind im Deutschen Rundfunk-Archiv nur die ersten beiden Sätze, Recitativ und Fughetta erhalten. In der Schellackaufnahme von 1940 spielen die Berliner Philharmoniker unter Leitung des Komponisten. Solist ist Heinz Stanske. Sie hören den Schluss des Recitativs und den Beginn der Fughetta. 2 aus der Concertanten Suite für Violine und Kammerorchester: 1. und 2. Satz ‚Recitativ und Fughetta‘ Heinz Stanske (Violine), Berliner Philharmoniker, Heinz Schubert; Berlin, 1940 Deutsche Grammophon/Deutsches Rundfunk-Archiv DRA-Nr. 4317355 CD 2, 17’55 – 21’10 (Dauer: 3’15) Recitativ und Fughetta, die ersten zwei Sätze aus der Concertanten Suite von Heinz Schubert, spielte Heinz Stanske, begleitet von den Berliner Philharmonikern unter Leitung des Komponisten. Über den Werdegang Heinz Schuberts sind nur die Eckdaten bekannt. Heinz Richard Schubert wurde am 8. April 1908 in Dessau geboren. Er studierte zunächst bei dem eminenten Dirigenten Franz von Hoeßlin und bei Arthur Seidl in seiner Heimatstadt, dann in München bei Hugo Röhr und vor allem Heinrich Kaminski, dem er die – ethisch, stilistisch, handwerklich – unbedingte Prägung für sein weiteres Schaffen verdankte und zeitlebens in tiefer Dankbarkeit verbunden blieb. 1926-29 war er Meisterschüler von Siegmund von Hausegger und Joseph Haas an der Münchner Akademie der Tonkunst. Ab 1929 wirkte er als Theaterkapellmeister in Dortmund und Hildesheim. 1929 komponierte er die Sinfonietta für großes Orchester, die die Auseinandersetzung mit der jüngsten Moderne bezeugt. Dieser folgten 1931-33 unter anderem die soeben erklungene Concertante Suite, ,Die Seele‘ auf einen Text aus den Upanishaden für Alt und Orchester, der ,Hymnus‘ nach Zarathustra und das ,Lyrische Concert‘ für Bratsche und Kammerorchester.
1933 wurde Heinz Schubert Kapellmeister in Flensburg, wo er zuletzt den Städtischen Musikdirektor Röder vertrat. 1936 entstanden drei wichtige Werke Schuberts: die ,Verkündigung‘ nach den Upanishaden, ,Das ewige Reich‘ nach Wilhelm Raabe, dessen Partitur heute verschollen ist, und sein zu Lebzeiten meistgespieltes Werk: ,Praeludium und Toccata‘ für doppeltes Streichorchester, uraufgeführt am 20. Oktober 1936 durch die Berliner Philharmoniker unter seinem Dortmunder Mentor Wilhelm Sieben. Ab 1938 bis zur finalen Mobilmachung zum Kriegsende war Schubert Städtischer Musikdirektor und Musikalischer Oberleiter am Theater der Seestadt Rostock, abgesehen von einem Intermezzo 1942 im westfälischen Münster. 1939 komponierte er das großangelegte ,Hymnische Konzert‘, 1941 die herrlich filigrane Zarathustra-Vertonung ,Vom Unendlichen‘ für Sopran und drei solistische Streichquintette, und 1943 das ,Ambrosianische Konzert‘, eine Choral-Phantasie über ,Verleih uns Frieden gnädiglich‘ für Klavier und kleines Orchester. Erhalten sind Bleistiftskizzen zu seinem letzten Werk, einem ,Concerto solemnis‘, das sich in die Instrumentalsätze Introitus. Kyrie, Toccata. Gloria, Andante. Credo, Largo. Benedictus und eine finale Fuge über Themen aus Bruckners Neunter Symphonie und Beethovens Missa solemnis hätte gliedern sollen. Musikalisch schritt Heinz Schubert auf den von seinem großen Vorbild Heinrich Kaminski eröffneten Pfaden weiter, die nichts Geringeres als eine Fortführung der großen deutschen kontrapunktischen Tradition von Bach über den späten Beethoven zu Bruckner sein sollten. Sie waren Hymniker einer ekstatischen Innerlichkeit, die auch das tiefe Interesse an den wahren Ursprüngen der Religion teilten. So übernahm Schubert von Kaminski z. B. auch die Vorliebe für Paul Eberhardts herrliche Übersetzungen von Zarathustra und den Upanishaden. Heinz Schubert war, bei all den beschränkten Möglichkeiten jener Zeit und in Anerkennung der Tatsache, dass er generationsbedingt seinen Aufstieg während des Dritten Reichs machte, ein couragierter Gegner der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Mit seinen musikalischen Weggefährten Kaminski und Reinhard Schwarz-Schilling teilte er das Schicksal der ,inneren Emigration‘. Als 1938 die Musik seines verehrten Lehrers Heinrich Kaminski zunächst verboten worden war, da man diesen verdächtigte, ‚Halbjude‘ zu sein, dirigierte Heinz Schubert am 20. November 1940 in Rostock die Uraufführung von Kaminskis jüngstem Werk, der Trauermusik »In memoriam Gabrielae«. Kaminskis Biograph Hans Hartog schrieb darüber: „Schuberts Unbotmäßigkeit wurde natürlich bemerkt und gerügt. Eine Strafaktion aber unterblieb.“ In der Folge aber geriet Schubert zunehmend unter Druck, ließ sich jedoch nicht dazu bewegen, auch nur ein Werk zu komponieren, in welchem irgendeine Form von Sympathie oder Loyalität mit dem Regime oder den herrschenden Ideologien zum Ausdruck gekommen wäre.
Wilhelm Furtwängler erwies sich als sein mächtigster und effektivster Beschützer, doch mit Furtwänglers Abgang war Heinz Schubert fällig: er wurde als Kanonier in den Volkssturm eingezogen, in das auf den Kriegsdienst nicht vorbereitete letzte Aufgebot, „Kanonenfutter“ für die russische Armee. Der genaue Ort und Zeitpunkt seines Todes sind unbekannt, und hier ist eine unsichtbare Mauer des Verstummens gezogen, die bis heute funktioniert. So schreibt Fred K. Prieberg in seinem epochemachenden ,Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945′: „Der Standesbeamte Koska, Dessau, verweigerte am 4. 9. 1997 gesetzwidrig die Angabe des Todesdatums und unterband damit die anständigen Menschen selbstverständliche Würdigung des Kriegsopfers. Derart raubte er dem Künstler das postum weiterwirkende Recht auf Präsenz in der Nachwelt und betrog den Lexikographen um sein Grundrecht auf ungehinderte Berufsausübung, was auch strafrechtlich von Belang sein könnte. Die Todesgegend Mecklenburg steht unter Vorbehalt; die Rote Armee durchbrach die Oderlinie nach Westen nicht vor Mitte April. Die Wehrmacht-Auskunftsstelle hat keine Vermissten- oder Todesmeldung.“ Es folgt nun ein Ausschnitt aus Heinz Schuberts einst so erfolgreichem, 1936 verfasstem Werk ,Praeludium und Toccata‘ für doppeltes Streichorchester in einer Schellack-Aufnahme von 1940. Der Komponist dirigiert die Berliner Philharmoniker. Für die Überspielung der Schellacks danken wir Ernst Lumpe. 3 aus ,Praeludium und Toccata‘ für doppeltes Streichorchester (1936) Berliner Philharmoniker, Heinz Schubert; DGG-Schellack, Berlin 1940 Deutsche Grammophon / Sammlung Ernst Lumpe, Soest CD 2, Track 3 und Anfang von Track 4 (Dauer: 5’18) Mit dem Anfang von Heinz Schuberts ,Praeludium und Toccata‘ für doppeltes Streichorchester hörten Sie die Berliner Philharmoniker im Jahre 1940 unter der Leitung des Komponisten. Im Oktober 2004 fand unter dem Motto ,Vom Unendlichen. Heinrich Kaminski und sein Kreis‘ eine Orchestertournee durch Deutschland statt, bei der Werke von Kaminski, Schwarz-Schilling und Heinz Schubert dargeboten wurden. Im Vorfeld nahm ich Kontakt mit der in Hamburg lebenden Komponistenwitwe Anna-Charlotte Schubert-Behr auf, die ich um Auskünfte über ihren Mann bat. Am 11. Januar 2004 schrieb sie mir folgende Zeilen: „Im April 1943 hatten mich Heinz Schubert und der Opern-Spielleiter – gegen den Willen des Intendanten, der ein Hitler-Anhänger war – engagiert als 1. Altistin im Rostocker Opern-Ensemble.
Es war für mich eine Zeit der Reife, weil ich bisher nur in der Kirchenmusik tätig war. Wir heirateten am 22. November 1943. Heinz Schubert war 35 (und ich 34) Jahre alt. Sein Vater war Augenarzt, seine Mutter die Tochter eines evangelisch-lutheranischen Pastors. Heinz Schubert studierte in München Musik, er hatte aber auch Medizin und Theologie erwogen. Von dieser Zeit weiß ich wenig, von dem einen Jahr in Dortmund als Repetitor mit Dirigier-Verpflichtung sprach mein Mann mit großer Hochachtung – von GMD Professor Sieben. Danach war Heinz Schubert drei Jahre Musikdirektor in Flensburg, [? dann wurde er] nach Rostock berufen, als Generalmusikdirektor – er durfte sich nicht so nennen, weil im Kriege keine Beförderungen vermerkt wurden. Heinz Schubert war auf Vorschlag des Vaters in die Partei Hitlers eingetreten – daß er austreten wollte, sagte mein Mann mir nicht, ich hörte es vom Bariton-Kollegen, da war fast ein Todes-Urteil gesprochen, und daher das Gerücht, daß mein Mann im KZ gewesen sei. Nein, das kann ich beweisen, mit Briefen von Heinz Schubert. Am 1. September 1944 wurden alle Theater geschlossen, mein Mann kam nach Schneidemühl, und ich musste in der Neptun-Werft die V3-Waffen röntgen [?] Mein Mann hatte immer sehr engen Kontakt mit W. Furtwängler, er schrieb ihm Feldpost. Mein Mann bekam den Befehl, zum Hauptmann der Kompanie zu kommen, und dieser zerriß vor den Augen meines Mannes seinen Brief, mit den Worten: „so ist es besser für Sie“. Er gab meinem Mann als Trost einen Tag Urlaub, das war unser letztes Wiedersehen, Mitte Januar, die Russen standen lange vor Stettin. Und am 8. Februar schrieb mir mein Mann: „hier ist die Hölle?“, und am nächsten Tag: „wir sind frei gekämpft, wir marschieren Richtung Westen“, das war sein letzter Brief – er klang so hoffnungsfroh. Ein Rückkehrer, der mich besuchte, sagte mir, er habe Heinz Schubert gesehen, als er zusammensackte, und 1952 bekam ich vom Suchdienst des ‚Roten Kreuzes‘ die Todesurkunde: vermißt seit Ende 1945. Heinz Schubert starb in der grausamen Schlacht im Oderbruch.“
Ein halbes Jahr später schrieb mir Anna-Charlotte Schubert-Behr: „Ich danke Ihnen für Ihren Anruf, der mir Ihren Besuch ankündigte. Sollten Sie nur meinetwegen kommen, bitte ich Sie, davon Abstand zu nehmen; ich bin inzwischen 95 Jahre alt, und ich habe nicht mehr die Kraft, Sie zu empfangen. (?) Sie sprachen davon, Briefe von Heinz Schubert lesen zu wollen; ich werde die drei letzten Briefe meines Mannes fotokopieren lassen, und sie Ihnen zusenden.“ Ein Leben lang hatte sie auf die Wiederbelebung der Musik ihres Mannes gewartet. Sie kam nicht mehr dazu, die Kopien der Briefe abzuschicken. Den schmalen musikalischen Nachlass hatte sie längst dem verdienten SFB-Redakteur Klaus Lang überlassen, der ihn uns in großzügigster Weise zur Verfügung stellte. Ein Jahr später, am 24. Juni 2005, stirbt Anna-Charlotte Schubert-Behr in Hamburg. Über den Nachlassverwalter versuche ich, doch noch an die versprochenen Fotokopien zu kommen. Dieser schreibt mir aber am 31. Oktober 2005: „All meine Bemühungen, noch irgendwelche persönlichen Dokumente oder Briefe von Herrn Schubert aufzufinden, sind leider ohne Erfolg geblieben. Die Rücksprache mit zweien der Haupterben, die auch die Auflösung des Hausrates und der Wohnung durchgeführt haben, hat ebenfalls keinen Erfolg gehabt. so dass ich bedauerlicherweise nicht in der Lage bin, Ihnen etwas aus dem Nachlass von Frau Schubert-Behr zukommen zu lassen.“ Soviel zum aktuellen Umgang der Deutschen mit ihrer verschütteten Hochkultur. Die einzige umfassendere Äußerung Heinz Schuberts zu seinem eigenen Schaffen, die ich bislang auffinden konnte, stammt aus dem Programmheft zu einem Matineekonzert der Berliner Philharmoniker am 6. Dezember 1942, in welchem unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler die Berliner Erstaufführung des »Hymnischen Konzerts« (mit den Solisten Erna Berger, Walther Ludwig und Fritz Heitmann) gegeben wurde (der Mitschnitt dieses Konzerts ist erhalten geblieben, war lange in Russland verschollen und befindet sich heute im Archiv von Radio Berlin-Brandenburg in Berlin). In der Programm-Einführung (die den Vermerk „bei Fliegeralarm müssen sich sämtliche Zuhörer in die Wandelgänge und Garderoben des Erdgeschosses begeben“ trägt) schreibt Heinz Schubert: „Jedes wahrhaftige Werk eines schöpferischen Menschen bildet ein Glied, das aus seinem Wesen organisch wächst, in seinem Keim die im ‚Vorhergegangenen‘ seines Schöpfers erreichten Entwicklungen trägt, und diese wiederum in dem neuen Schöpfungsprozeß nach neuen Gesetzen ausreifen läßt; d. h. mit anderen Worten, daß im Grunde jedes gültige Werk auf den Schultern des vorher entstandenen ruht, oder, daß die organische, folgerechte Entfaltung eines schöpferischen Lebens nie einen Stillstand oder eine Rückentwicklung kennen kann.
Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet entspricht die Entstehung des »Hymnischen Konzertes« (komponiert 1939-40 und am 7. Mai 1941 in Rostock uraufgeführt) einer logischen Konsequenz aus stilistischen Erkenntnissen der Vorwerke, getragen von der stets gegenwärtigen Leitidee polyphonen Lebens und ihrer Musikwerdung im Zusammenklang der Vielfalt polyphoner (i. e. ‚vielstimmiger‘) Kräfte. Diese Voraussetzung gibt den geistigen, formalen und musikalischen Unterbau auch für diese Konzeption. Der Ausgangspunkt liegt in Entwürfen, [?] die erst jetzt zu einer Formung reiften, die durch eine Konzentration auf das Wesentliche der Dichtung jede konfessionell-dogmatische oder kirchliche Bindung entzog und ihre Gültigkeit für jede Seele bewußt stärkte, die sich auch nur eine Spur eines Gefühls ihrer Gott-Verbundenheit, Gott-Verantwortung und Gott-Nähe behütet hat. So ergab sich die zwangsläufige Entwicklung, dass die Schlusskrönung des Werkes (im ,Finale‘ mit dem eigentlichen ,Te Deum‘) organisch vorbereitet wurde durch die beiden rein instrumentalen Sätze ,Introitus‘ und ,Toccata‘. Der III. Satz, der unter der ständigen Wiederkehr eines Themas in den verschiedensten Stimm- und Instrumentenlagen (= Passacaglia) das vokale Element mit den beiden Singstimmen einführt – gleichsam die aus weitester Ferne und Stille ihr ewiges ,Sanctus‘ verkündenden Engelszungen – erhält hierdurch den bedeutsamen Charakter einer spannungerfüllten Überleitung. Zu diesem ,Ineinanderwachsen‘ geistiger, musikalischer und formaler Gesetze tritt schließlich noch der kongruente Ausdruck der Sprache selbst: in der Fassung der Orchesterbesetzung. Einem Streichorchester als Tutti-Element treten vier in sich und zu einander polyphone Gruppen gegenüber: die solistisch konzertierende Orgel und drei Concertinos (3 Streicher, 3 Holzbläser, 3 Trompeten). Im ,Introitus‘ werden diese für sich allein und gegeneinander aufgestellt; eine feierliche Einleitung von Streichern und Orgel steigert sich unter dem Hinzutritt der Trompeten zu einer machtvollen Entwicklung, die mit dem Einsatz der anderen Concertinogruppen einen lyrischen Ruhepunkt findet, um aus diesem zu einem hymnischen Abschluss des ganzen Orchesters zu wachsen.
Die ,Toccata‘ entwickelt vier ,Inventionen‘ (hier: Zwischenspiele) der Orgel in der Art, dass diese sich in der Stimmenzahl und in der Bewegung steigert, jeweils unterbrochen, vorbereitet oder bestätigt durch die übrigen Orchestergruppen, die sich in der Wiederaufnahme des ,Introitus‘-Themas zu einer kraftvollen Einheit zusammenschließen. Aus ihr wächst das stille Passacaglia-Thema, das aus der Tiefe des Orgelpedals zu immer lichteren Höhen entschwebt, während die beiden Engelstimmen ihr ,Sanctus‘ aus einem ungreifbaren Psalmodieton zu einer seligen Verkündigung verklären. Die formale Anlage des ,Finale‘ ergibt sich aus der Aufteilung der Dichtung: aus einem hymnischen Streicherfugato steigt der ekstatische Lobgesang zu jubelndem Glanze; sein ,ewiger Ruf‘ (,incessabili voce proclamant‘) wird umrahmt von Orchestersätzen, die vorbereitenden (,tibi omnes angeli‘) oder erfüllenden (,sanctus‘) Charakter tragen. Eine kurze Kadenz des Streich-Concertinos führt zu der innigen Stille, die von der Menschwerdung Christi kündet und seinen Segen für sein Volk erfleht. (,Christe, tu ad liberandum?‘) Aus dem Einleitungsgedanken des ,Finale‘ strebt das Te-Deum-Thema zu immer größeren Weiten, um schließlich die letzte Wandlung des ,Introitus‘-Themas in der tiefsten Gotteszuversicht (,non confundar‘) zu vollenden.“ Hören Sie nun zum Abschluss den Schlussteil des gewaltigen, an die Ausführenden höchste Anforderungen stellenden ,Hymnischen Konzerts‘ von Heinz Schubert in der legendären Kriegsaufführung der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler, deren Anfang schon zu Beginn dieser Sendung erklungen ist. Es singen Erna Berger, Sopran, und Walther Ludwig, Tenor. Die Orgel spielt Fritz Heitmann. Möge dieser großartige Mitschnitt ein Ansporn für künftige Aufführungen sein.
Christoph Schlüren