Joachim Gies im Interview: „Meine Musik lässt einen nicht unbeteiligt“

Foto: Betina Kuntzsch

 

Saxophonist und Komponist Joachim Gies über das Verhältnis von Komposition und offener Gestaltung, die heilende Kraft der Musik und die Zeit als unser wichtigstes Gut.

Herr Gies, Ihre Musik versetzt einen in andere Sphären. Wohin möchten Sie ihr Publikum entführen?

Musik hat die Kraft, uns in Sphären zu versetzen, die dem Alltagsbewusstsein verschlossen sind, eine Kraft, die tiefe Schichten des Unterbewusstseins öffnet. In meiner Musik trete ich zunächst diese Reise in unbewusste Zonen an, mit der Einladung an das Publikum, mich auf diesem Weg zu begleiten. Musik ist für mich die Kunst, die Gefühle am intensivsten ausdrücken kann. Somit können Klänge auch unsere Emotionen enorm beeinflussen und heilsame Wirkung entfalten. In einer kontemplativen Atmosphäre  verstärke ich positive emotionale Eindrücke, indem ich zarte und fragile Klangräume öffne. Dabei bemerke ich, dass das Publikum immer mehr dazu bereit ist, mir auf diesem Weg zu folgen und gebannt meinen Klängen lauscht.

Indem sie sich voll und ganz auf den Moment und Ihre Klänge einlassen?

Ja genau. Meine Musik erfordert ein ruhiges Umfeld, denn es sind ja auch viele piano und pianissimo-Stellen dabei. Jede Ablenkung würde die Wirkung zerstören. Als Zuhörer muss ich mir Zeit nehmen – die eigentlich unserer wichtigstes Gut ist. Daher finde ich auch den Begriff „Zeitvertreib“ sehr unpassend, denn das wäre ja ein vertreiben dessen, was für uns eigentlich am Bedeutsamsten sein sollte.

Da haben Sie Recht. Es ist allerdings in unserer schnelllebigen Welt nicht so einfach…

Natürlich braucht man im Leben auch Ablenkung oder etwas Unterhaltsames, aber momentan werden wir von einer enormen Flut davon überschüttet. Ich versuche daher in der Musik die Zeit zu dehnen. Musik aktiviert sehr viele Synapsen-Bildungen im Gehirn. Wir haben eine Erinnerung, eine Ahnung der Zukunft und das, was wir gerade erleben. Wenn ich mich intensiv auf die Klänge des Moments einlasse – ähnlich wie in der Meditation oder im Buddhismus – kann man in einer tief meditativen Entspannungsphase den gerade erlebten Augenblick intensiver und länger wahrnehmen, als wir das im Alltäglichen tun. Und von daher erreicht man so das Gegenteil von „Zeitvertreib“: nämlich die Zeit auszukosten.

Wie entstehen Ihre Kompositionen?

Zu Beginn ist es für mich eine Art hypnotischer Zustand, in den ich mich versetze. Ich fange an zu spielen, ertaste Klänge und Räume. Für mich wird dann auch folgende Frage relevant: In welches Verhältnis setze ich offene Gestaltung und kompositorische Vorgaben? Meine Antwort darauf: Komposition als strenge Notation ist ja teilweise schwierig mit Leben zu füllen. Ich habe Erfahrungen aus der Jazzmusik, der improvisierten Musik und schätze auch die Strukturen der komponierten Musik sehr. Diese verschiedenen Gestaltungsformen fließen bei mir zusammen. Für mich ist es wichtig, eine Art kompositorische Struktur zu haben, die mir aber auch die Freiräume lässt, intuitives Geschehen zu ermöglichen. In diesem hypnotischen inneren Lauschen kommen dann Dinge an die Oberfläche, die mich selbst überraschen. Ich möchte Freiräume zulassen, die es ermöglichen, dass etwas nicht Geplantes passiert. Das lässt einen dann auch in Bereiche dringen, die ohne die Musik gar nicht zu erreichen wären. Damit wären wir wieder bei der Kraft der Musik, verdrängte unterbewusste Verkrustungen aufzuspüren und zu lösen. Meine Kompositionen stehen also für ein Paradox: geplante Planlosigkeit.

Welcher Musikstil hat Sie in der Jugend geprägt?

Für mich waren in der Jugend die Schallplatten quasi Kultobjekte, sie hatten für mich eine große Bedeutung und ich habe sie immer wieder gehört. Meine erste LP war „Sgt. Pepper“, dann folgte das „Weiße Album“ der Beatles.

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„Sgt. Pepper“, The Beatles (1967)                                   Das „Weiße Album“, The Beatles (1968)

Später kamen die großen Jazzsaxophonisten hinzu, in den 70er und 80er Jahren habe ich viele Jazzkonzerte besucht, u.a. Dexter Gordon, Stan Getz, Roland Kirk, das Art Ensemble of Chicago. Zeitgenössische Musik von György Ligeti, John Cage, Karlheinz Stockhausen hat mich stets begleitet. In der klassischen Musik habe ich viele Konzerte mit Claudio Abbado gehört, sein behutsames Nachspüren der musikalischen Phrasen hat mich tief beeindruckt. Natürlich prägen diese Hörerfahrungen auch meine Musik, eher indirekt, aber sie pulsieren in meinem inneren Klanggedächtnis. Später kamen noch die außereuropäischen Einflüsse durch meine Konzertreisen in die Mongolei und Sibirien hinzu. Seitdem arbeite ich mit verschiedenen Klangkörpern und meinem Saxophon – mit diesem Tableau schaffe ich musikalische Klangstrukturen.

Sie spielen oft in Kirchen oder Synagogen – wie kommt es zu dieser Verbindung zu religiösen Veranstaltungsorten?

Viele Kirchen haben sich für kulturelle Veranstaltungen geöffnet, die nicht unbedingt im engen religiösen Sinne einzuordnen sind. In Kirchen ist die Akustik oft hervorragend – zu groß dürfen sie allerdings für meine Musik auch nicht sein. Der Hall tut meinen Klängen sehr gut, da sich zarte Klänge im Raum entfalten können. Ich verstehe meine Musik nicht im engen Sinne als einer Religion zugehörig, aber Musik kann vielleicht einen transzendenten Pfeil absenden? Vielleicht können wir dabei Kräfte erahnen, die in unserem rationalen Weltbild zu sehr ausgeklammert sind?

Ihre Musik ist ja in keine bestimmte Schublade einzuordnen. Sie überraschen auch mit der Einbindung von sehr speziellen Klangkörpern, wie Backpapier. Wie kommen Sie auf die Idee, solche Gegenstände mit einzubinden?

Es ist letztendlich mein Spieltrieb, der mich immer ausprobieren lässt, wie Dinge sich anhören. Z.B.: wie klingt das Klopfen auf die Tischplatte? Oder wenn ich probiere, wie es klingt, wenn ein Kochtopfdeckel sich austrudelt, dann sagt meine Frau: jetzt lass’ es doch mal liegen! Solch alltägliche Klangereignisse faszinieren mich und die versuche ich dann in die Musik zu integrieren. Bei der Verwendung des Backpapiers in der Komposition „DIE TITANEN“ steht das Knistern des Papiers am Anfang eines Prozesses des Übergangs vom Geräusch zum Ton, zum Klang, zur Sprache. Ich gehe oft von ganz ursprünglichen Klängen aus wie: Rauschen, Rascheln, Windgeräusche oder auch Luftklänge mit dem Saxophon, die noch keine feste tonale Zuordnung haben. Damit gestalte ich Klangwelten, die zunächst poetisch offen sind und die sich nach und nach verdichten.

Was schätzen Sie am Instrument Saxophon?

Ich bin sehr dankbar mit dem Saxophon ein Instrument zu spielen, das eine enorme klangliche Vielfalt bietet. Zudem erlernte ich an der Universität der Künste bei meinen Saxophonlehrer Detlef Bensmann viele zeitgenössische Spieltechniken, die ich dann für mich weiter entwickelt habe. So würde ich meinen Saxophonton auch als sehr eigenwillig beschreiben. Der klassische Saxophonton ist etwas enger und schmaler als meiner, der Jazz-Saxophonton ist eher etwas rauer und lauter. Ich bin genau dazwischen und sehr froh, meine Nische für einen persönlichen Ton gefunden zu haben.

Welche Reaktionen des Publikums sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

Eine Zuhörerin hat mir einmal ins Gästebuch des Veranstalters geschrieben: „Das war ja wie eine Stunde Psychotherapie!“. Ich mache immer die Erfahrung, dass meine Musik die Zuhörer nicht unbeteiligt lässt. Ein älterer Herr sagte nach einem Konzert zu mir: „Eigentlich war ich schon bereit aufs Ende zuzugehen, aber nachdem ich Ihre Musik gehört habe – die ist so frisch, so mit Energie geladen – da möchte ich noch bleiben.“  Das sind natürlich Reaktionen, die einen tief berühren.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gies!

Interview von: Caroline Helms, Musikverlag Ries & Erler

Webseite von Joachim Gies

Werke von Joachim Gies bei Ries & Erler

Die CD –Neuerscheinung „Es fehlet an Gesang, der löset den Geist“ (nach drei Gedichten von Friedrich Hölderlin) ist u.a. erhältlich im Webshop von Ries & Erler.

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Oder auf digitalen Downloadplattformen:

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Literaturvertonung (You Tube): Die Titanen / Sonst nemlich, Vater Zevs / Wenn aber die Himmlischen

Nächste Konzerttermine:

-28. April 2018 in der Canisiuskirche – Witzlebenstraße 30, 14057 Berlin – statt.  (Eintritt frei, Spende erbeten) – Duokonzert Jochaim Gies (Saxophon, exotische Instrumente) & Denis Stilke (Perkussion)

-4.Mai 2018 im Meerbaum-Haus, Sigmundshof 20, 10555 Berlin, (Eintritt frei, Spende erbeten) – Solokonzert

-24.August 2018 @Kultur im Gewölbe, Zehnthofstraße 2, 53489 Sinzig, http://www.gewölbe-sinzig.de – Joachim Gies Solo, Belausche die Sterne